Kapitel 02

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„Ein Kind, geboren aus strahlendem Licht. Eine Bindung, erwachsen aus der Tiefe unerschütterlicher Freundschaft. Geleitet vom Flüstern der Vergangenheit werden sie das Verlorene aufspüren und die Geschichte von morgen weben.“
Undatierte Prophezeiung aus dem Buch „Vox Aeternitatis – Stimme der Ewigkeit“ von Nostropheus aus dem 2. Sternenzyklus Wassermann. Archiviert im Astra Arcanum, der Bibliothek von Peria.

Die Sonne goss ihr goldenes Licht über Elstertal, während der Himmel ein makelloses Blau präsentierte. Das Lachen der Kinder durchbrach die Stille der blühenden Blumenbeeten und tiefgrünen Hecken.
Lina, Max und Tobi hatten sich eine schattige Bank erobert, die unter einem alten, knorrigen Baum stand. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem Summen der Bienen und Zwitschern der Vögel, während sie sich angeregt unterhielten.
Lina ließ ihre Füße schaukeln, die Zehen berührten kaum den Boden, als sie Tobi mit einem funkelnden Blick ansah. „Glaubst du, eure Oma Lissy wird uns heute Abend wieder in eine ihrer magischen Geschichten entführen?“ Ihre Stimme tanzte vor Vorfreude.
Ein träumerisches Lächeln umspielte Tobis Lippen. „Oh das hoffe ich sehr! Ich liebe es, wenn sie von ihren magischen Abenteuern erzählt. Als ob all diese wunderbaren Kreaturen im Schatten unserer Gärten leben würden.“
Max‘ Blick verlor sich einen Moment lang in der Ferne, bevor er langsam nickte. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, wanderte seine Hand in die Tiefe seiner Hosentasche und förderte eine alte, von feinen Kratzern überzogene Taschenuhr zutage. Ein Erbstück seines Opas, dessen Berührung ihn beruhigte. In Momenten, wenn er aufgewühlt war oder eine schwierige Situation in der Schule bewältigen musste, suchten seine Finger fast wie von selbst die glatte Oberfläche der Uhr. Sie fuhren über jede Vertiefung, jede Rundung und über das glatte Glas. Oftmals war er sich dieses Rituals nicht einmal bewusst; seine Gedanken verloren sich und er konnte sich dann gar nicht daran erinnern sie in der Hand gehalten zu haben.
Die Erinnerung an den Großvater ließ eine leise Sehnsucht in ihm aufkeimen. Lina, die Max‘ nachdenklichen Blick auffing, stupste ihn spielerisch an, „Erinnerst du dich an die Geschichte über die Füchse?“ Max runzelte die Stirn, ein Schmunzeln brach sich Bahn. „Die aetherischen Füchse, Lina, nicht einfach nur Füchse.“ Lina imitierte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und einer übertriebenen Mundbewegung, was Max und Tobi zum Lachen brachte. Ihre Albernheiten waren wie ein Sonnenstrahl, der die Schatten der trübsinnigen Gedanken verscheuchte.
„Los kommt“ forderte Lina die beiden auf „ihr verpasst noch eure eigene Geburtstagsfeier!“ Diese Worte waren der Funke, der ihre Freunde in Bewegung setzte. Wie auf ein Zeichen sprangen sie gleichzeitig von der Bank und ließen ihre Schritte zu einem hastigen, rhythmischen Trommeln auf dem festgetretenen Boden verschmelzen. Sie jagten dem großen, grünen Gartentor entgegen. Linas Hand traf das kalte Metall mit einem klaren hellen Ton, während sie laut „Erste!“ rief. Ihr Lächeln breitete sich aus, als sie das Schild am Tor, das in eleganten, geschwungenen Buchstaben „Willkommen bei Familie Wiesenbach“ verkündete, mit einem leichten, verspielten Klaps begrüßte. Kurz nach ihr hasteten die beiden Geburtstagskinder ebenfalls durch das Tor und waren sichtlich beeindruckt, was ihre Eltern auf die Beine gestellt hatten.
Der Garten war geschmückt mit verschiedenen großen und farbigen Luftballons. Auf einigen prangte stolz die Zahl 12, ein stilles Zeichen des heutigen Meilensteins.
Rundherum waren Tische und Bänke aufgebaut und der große Familiengrill wartete darauf, angefeuert zu werden. Auf einem der Tische lockte eine große Schüssel Nudelsalat und daneben standen frisch aufgeschnittene Baguette-Stangen sowie ein großer Teller mit selbst gemachter Kräuterbutter. Den Kindern lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Sie sahen sich um, ob sie beobachtet wurden, und griffen sich dann jeweils eine Scheibe Brot.
Eine glockenhelle Stimme hallte durch den Garten: „Füchse!“ Augen weiteten sich, Herzen machten einen Sprung. Die Kinder drehten sich ruckartig um. „Wo?“ entwich es ihren Lippen gleichzeitig. Oma Lissy, deren Augen listig funkelten, streckte ihre Arme aus, als wolle sie die ganze Welt umarmen. „Naschfüchse!“ Ihr Lachen, warm und einladend, war wie immer ansteckend und die Kinder brachen in freudiges Gelächter aus. Sie stürmten auf Oma Lissy zu und umarmten sie in einem Wirbel aus Glück und Wiedersehensfreude.
Silberne Strähnen, kunstvoll zu einem Zopf geflochten, umrahmten Lissys Gesicht, das von Falten durchzogen war, Zeugnisse eines langen, gelebten Lebens. Ihre Augen, weich und warm, wanderten von einem Kind zum nächsten, als würde sie jeden einzelnen Moment mit ihnen einfangen wollen. „Wie schön, euch zu sehen. Wie geht es dir, Lina? Hast du mal wieder ein tolles Spiel erfunden?“ Ihre Stimme, sanft und liebevoll, umhüllte die Kinder wie eine warme Decke. Elisabeth, die alle nur Oma Lissy nannten, hatte Lina seit ihrer Geburt in ihr großes, weiches Herz geschlossen. Die Kinder wuchsen praktisch wie Geschwister auf und verbrachten fast jede freie Minute miteinander, so dass sie ein dichtes Netz aus Erinnerungen und Abenteuern untrennbar miteinander verband. Die Eltern, Nachbarn und Freunde zugleich, beobachteten, wie die Kinder, Seite an Seite, durch Krippe und Kindergarten zogen, ein unzertrennliches Trio, das im Laufe der Jahre nur noch fester zusammenwuchs. In der Schule wurde schnell klar: Wer einen von ihnen herausforderte, bekam es mit allen zu tun. Lina, mutig und entschlossen, stand wie ein Schild vor den Zwillingen, bereit, jeden Kampf für sie zu kämpfen. Ihre unerschütterliche Loyalität war das Band, das sie zusammenhielt, und die Jungs schätzten sie mehr als alles andere auf der Welt, entschlossen, alles zu tun, um ein Lächeln auf Linas Gesicht zu zaubern.
„Ja, habe ich tatsächlich! Ich nenne es Geschichten Memory.“ Lina strahlte über das ganze Gesicht. „Hat dir dein Glitzerstein wieder seine Geheimnisse zugeflüstert und geholfen?“, erkundigte sich Oma Lissy. Lina, deren Wangen sich in ein zartes Rosa färbten, nickte schüchtern, ein leises „Ja“ entwich ihren Lippen. Lissy beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch „Darf ich ihn noch einmal sehen?“ Begleitet von einem kichernden Glucksen verschwand Linas Hand an ihrem Gürtel und fand wie selbstverständlich die kleine versteckte Geheimtasche. Sie tastete nach dem vertrauten kleinen Stein, der sich dort verbarg. Als sie ihn zwischen ihren Fingern fühlte, spürte sie sofort eine beruhigende Wärme, die sich durch ihren Körper ausbreitete. Der Stein war klein und glatt, von einem zarten Rosa, das im Sonnenlicht schimmerte. In seinem Inneren schienen unzählige winzige Glitzerpartikel gefangen zu sein, die bei jeder Bewegung funkelten und tanzten, als würden sie eine eigene Geschichte erzählen. Lina hielt den Stein fest in ihrer Handfläche und spürte, wie er sie mit seiner Präsenz umhüllte, sie ermutigte und ihr Mut zusprach. Es war, als hätte sie einen treuen Begleiter an ihrer Seite, der ihr in schwierigen Momenten Trost spendete und sie daran erinnerte, dass sie alles schaffen kann.
Vorsichtig überreichte sie ihn Lissy, deren Augen sich im Glanz des Steines spiegelten. „Er ist wunderschön“, flüsterte Lissy ehrfurchtsvoll. „Du musst ihn immer gut aufbewahren, er wird dir noch eine große Hilfe sein!“ Sie legte den Stein genauso vorsichtig zurück in Linas Hand, die kaum hörbar aufatmete, als das kostbare Kleinod wieder in ihrem Gürtel verschwand.
Tobi, der das sonderbare Gespräch der Beiden beobachtet hatte, gab Lina einen zärtlichen Knuff in die Seite „Unsere Glitzerfee!“ und lief lachend zurück zum Buffet, um sich eine weitere Scheibe Brot zu schnappen.

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